dwrweb

Willkommen bei Diego Wegner

RIAS 1 und „Vincente“

Blick zurück zum Anfang der 1980er Jahre: Auf dem Westberliner Radiosender „RIAS 1“ läuft jeden Sonntag Morgen ab 08:10 uhr die Sendung „RIAS Schlagerparade“ mit Nero Brandenburg. Neben bekannten Größen wie Andy Borg, Roland Kaiser oder Lena Valaitis stellte der Moderator an und zu aber auch unbekannte Interpreten – teilweise in sehr jungen Jahren – vor. Ein solcher Interpret war der Junge aus Andalusien, der auf dem Plattencover und in der Sendung „Vincente“ genannt wurde. Seine wenigen Lieder bewegen auch in den 2020er Jahren noch die Besucher auf einem Youtube-Account, die sich fragen, was aus ihm geworden ist. Deshalb gibt es diese Seite – sie erzählt ein paar Hintergründe.


Der Westberliner Horst Peter Paul („Nero“) Brandenburg ...

... war ursprünglich Mitarbeiter der Deutschen Bundespost. Er arbeitete auch beim Berliner Jugendclub e. V. als Manager und Entertainer, hatte von dort Pressekontakte u.a. zum Rundfunk im amerikanischen Sektor, der besser als RIAS bekannt ist. Im November 1967 lud der Sender Brandenburg zu Probeaufnahmen ein, ab Januar 1968 stellte er ihn als freien Mitarbeiter ein.

In den 1980er Jahren war RIAS 1 der Sender, der überwiegend Schlager spielte, während sich RIAS 2 mehr am jugendlichen Publikum und auf Popmusik ausrichtete. 1981 schlug „Nero“ Brandenburg dem Sender eine deutsche Hitparade vor und wurde dafür zunächst belächelt, wie er in einem Interview für das Portal „Radioszene“ sagte (Link am Ende). Ihm wurde eine Sendezeit am Sonntagmorgen ab 08:10 Uhr bis 09:00 Uhr zugewiesen, die Sendung hieß zunächst „Hallo Schlagerfans“ und wurde von Brandenburg später in „RIAS Schlagerparade“ umbenannt. Erstaunlicherweise erreichte man damit eine bestimmte Zielgruppe in der DDR. „Gerade die Hörer im Sendegebiet der DDR waren ganz wild auf deutsche Schlager“, berichtet der Moderator in dem genannten Interview.


Durch die Mutter zum Schlager hören erzogen

Meine (allein erziehende) Mutter hörte Radiosender, die überwiegend Schlager spielen, soweit ich zurück denken kann. So hatte ich schon als Kind Kontakt mit diesem Genre und dem Westberliner Sender, meine Mutter mochte die DDR-Sender nicht. So ergab es sich, dass ich auch Gefallen an Schlagern fand. Während der Schul- und Lehrzeit hatte ich geregelte Wochenabläufe, die freilich zum Frühaufstehen an Werktagen zwangen. Es ergab sich dadurch, dass ich sonntags auch schon ab 8 Uhr munter war und die Brandenburg’sche Schlagerparade im Bett hörte. Als der Mann im Jahr 1983 (im April hatte ich meinen 18. Geburtstag) plötzlich ein Lied vorstellte, das ich noch nie gehört hatte, dessen Stimme mir völlig fremd war, wurde ich auf diesen Interpret aufmerksam. „Nero“ Brandenburg sagte, er heißt Vincente.


Sonst keiner spielte Vicente

Dass das „n“ in der Namensmitte von der Plattenfirma, dem Covergrafiker oder wem auch immer hinein geschummelt wurde, erfuhr ich später. Schnell merkte ich aber, dass diese Lieder ausschließlich von Horst Peter Paul Brandenburg gespielt wurden, in seinen beiden Sendungen „RIAS Schlagerparade“ und „Neros Schlagerladen“. Letzterer wurde an einem Werktag (es könnte der Mittwoch gewesen sein) immer nachmittags ausgestrahlt.

Der Mann, der seine drei Vornamen nie in seinen Sendungen erwähnte, den alle nur als „Nero“ kannten, sprach die Hörer an, auch die in der DDR. Der RIAS war durch seinen Sender Hof (in Bayern, nahe der damaligen Staatsgrenze BRD / DDR) in weiten Teilen des Landes mit dem real existierenden Sozialismus zu hören. Es gab „Deckadressen“ in Berlin (West), an die Hörer aus der DDR ihre Autogrammwünsche und sonstige Post bezüglich der RIAS-Sendungen schicken konnten. Diese sah aus wie eine Privatadresse. Sicher wusste das Ministerium für Staatssicherheit über diese (öfter wechselnden) Deckadressen Bescheid. Wegen diesem „Vincente“ nahm ich über so eine Adresse auch einmal Kontakt mit Herrn Brandenburg auf. Seine Antwort, so bat ich, möge er an eine in Westberlin wohnende Dame senden, deren Adresse ich dazu schrieb. Sie war einige Jahre zuvor (bereits im Rentenalter) mittels Übersiedlungsantrag von der Hauptstadt der DDR (Bezirk Lichtenberg) nach Westberlin (Bezirk Neukölln) umgezogen und reiste regelmäßig besuchsweise in die DDR ein. Sie brachte die Antwort von Herrn Brandenburg mit; es gelang letztendlich, über sie einen Brief direkt an Vicente zu schreiben. Dass er nicht „Vincente“ sondern Vicente heißt, erfuhr ich erst, als dann nach langer Zeit tatsächlich ein Antwortbrief aus Kassel kam – handgeschrieben von ihm. Ein weiterer Briefwechsel kam dann leider nicht mehr zustande; vermutlich dürfte das MfS einen Anteil daran haben.


Adios Kassel

Vicente wurde nur mit vier Liedern bekannt, gepresst auf  zwei 7-Zoll-Single-Platten:

Kleiner Vogel flieg (1983) – 4:13

Tommi, mein Freund (1983) – 2:57

Gerd Grabowski ist übrigens besser als der Sänger „G. G. Anderson“ bekannt.

Diese vier Lieder sollten die einzigen bleiben, die den Jungen in der BRD und in der DDR bekannt machten. Es gab noch wenige weitere Platten, sie stammten alle aus derselben Zeit. Darunter war auch eine englischsprachige Platte.

Mit dem Stimmbruch gab Vicente das Singen auf. Und für ihn hieß es nicht „Adios“ zur besungenen Mamá Maria (weg von Spanien, in Richtung BRD), sondern in die Gegenrichtung, in die ursprüngliche Heimat.


Recherchen nach der Wende

Für einen Eisenbahnfreund wie mich lag Kassel nicht allzu weit entfernt von der Grenzübergangsstelle Gerstungen, die BRD-Seite war der Grenzbahnhof Bebra. Die Züge schaute ich mir im Kursbuch der Deutschen Reichsbahn öfter an, hätte Kassel gerne mal kennengelernt; diesen Vicente, damit einen Spanier, vielleicht auch mal persönlich sehen können. Eine Reise über die „Staatsgrenze West“ (offizielle DDR-Bezeichnung) war für mich bis zu den neuen Reiseregelungen im Herbst 1989 jedoch überhaupt nicht möglich. Am 09.11.1989, an der legendären Pressekonferenz (Hintergründe dazu im Buch „Konspirative Liebe“), gab es Reisefreiheit plötzlich für alle DDR-Bürger. Andere Reiseziele waren jedoch zunächst einfacher erreichbar als Kassel.

Am 11.05.1992 brach ich auf zur „Frühjahrs-Rundreise 1992“. Zuerst ging es mit dem IC 173 via Helmstedt – Braunschweig – Hildesheim – Schnellfahrstrecke nach Kassel-Wilhelmshöhe. Dort waren einige Stunden Aufenthalt eingeplant. Seit dem Brief von Vicente waren inzwischen sieben Jahre vergangen. Trotzdem begab ich mich auf seine Spuren.

Eine Mitbewohnerin des Hauses in der Bunsenstraße war sehr freundlich und konnte sich an Vicente erinnern. Sie sagte, die Familie lebt inzwischen wieder in Spanien. Nur seine Schwester war immer noch in Kassel zu Hause. Die Entfernung war nicht allzu weit, ca. 10 Minuten zu Fuß.

Die Schwester Vicentes war auch zufällig zu Hause; auch sie wies mich nicht ab, sondern war zu einem kurzen Gespräch bereit. Sie berichtete, dass Vicente im Ausland regional teilweise weitaus größeren Erfolg hatte als in der damaligen BRD (über Reaktionen in der DDR bekam man nichts mit, von meiner Post abgesehen). Während meines Besuches rief die Schwester ihren Bruder an, berichtete von mir. Vicente erinnerte sich in dem Telefonat nicht mehr an meinen Namen. Er wusste nur noch, dass mal jemand geschrieben hatte und nie eine Antwort kam, als er noch zur Schule ging. Damit war für mich klar: Meine Antworten an ihn, die ich noch bis 28.07.1989 schrieb (weil ich damit rechnete, dass Briefe nicht ankommen), wurden sämtlich abgefangen! Der Briefkontakt zwischen zwei Jugendlichen über den Eisernen Vorhang hinweg war nicht dauerhaft möglich. Vicente betrachtete den Kontakt seinerzeit als  „erledigt“. Und ich hatte Wut auf das MfS.

Die Schwester gab mir, mit seinem Einverständnis, die im Mai 1992 aktuellen Kontaktdaten von Vicente. Ich versuchte, den Kontakt wiederzubeleben, zu versuchen, mehr über den Interpreten von damals zu erfahren. Der Schwester zufolge betrieb er damals eine Tankstelle in der Provinz Castellón an der spanischen Ostküste. Ich schrieb ihm noch einmal. Es kam wieder nie eine Antwort. Das MfS gab es nicht mehr, ebenso die Nachfolgeeinrichtung AfNS (Amt für Nationale Sicherheit der DDR). Die DDR selbst war ja seit Oktober 1990 Geschichte. Aber die sieben Jahre, die aus dem damaligen Schüler einen erwachsenen Mann mit vermutlich ganz anderen Interessen als Brieffreundschaften zu Schlagerfreunden werden ließen, hatten zu viel Gras über die Sache wachsen lassen. Schade.

Vicente wird mir immer im Gedächtnis bleiben – einerseits als der junge Sänger mit seinen vier bekannten Liedern, andererseits aber auch als Symbol einer versuchten Brieffreundschaft über die „Staatsgrenze West“ hinweg, als ein Symbol dafür, dass dies von den Organen der DDR unterbunden wurde, weil es vielleicht nicht ins Bild einer jungen sozialistischen Persönlichkeit passte. Vicente war kein Prominenter, sonst hätte ich sicher nie versucht, ihn zu kontaktieren. Aber er hätte mir, bei funktionierendem Briefwechsel, die Möglichkeit geben können, nicht nur über die BRD, sondern auch über Spanien etwas mehr aus erster Hand zu erfahren können.


Links zum Thema